Über Neil Diamond

„Lebt der eigentlich noch?“
Ja, er lebt noch und war noch mit 76 Jahren auf Welttournee, bis seine Gesundheit ihm Anfang 2018 einen Strich durch die Rechnung machte.  Wegen seiner Parkinson-Erkrankung wird es keine weiteren Liveshows mehr geben.  🙁
Unglaubliche 50 Jahre Bühnenerfahrung liegen bereits hinter ihm: Neil Leslie Diamond wurde am 24. Januar 1941 in NYC geboren und gehört seit den späten 1960er Jahren zu den ganz großen Namen der Singer/Songwriter. Leider ist sein Name seit den 80er Jahren mehr und mehr aus dem Hör-Repertoire des Massenpublikums verschwunden.

Durchbruch mit „Solitary Man“
In den 70er Jahren waren seine introspektiven Songs mit einem hohen Grad von Selbstidentifikation weltweit bei Publikum und Kritikern geschätzt; zumeist weibliche Fans waren verrückt nach dem gutaussehenden Amerikaner. „Sweet Caroline“, „Song Sung Blue“, „Cracklin Rosie“, „Beautiful Noise“ wurden Charthits und dann Evergreens in vielen Ländern, nachdem Diamond Ende der 60er Jahre zunächst den Durchbruch als Songwriter („I’m a Believer“ wurde Nr. 1 Hit für die ‚Monkees‘), dann auch als Sänger („Solitary Man“) schaffte.

Seit Mitte der 80er Jahre wichen dann die perfekt durchkomponierten, oft düster-schwermütigen Songs über die traurigen Seiten der Liebe und des Lebens einer anderen Art von Pop: Mit dem Album „Primitive“ machte Diamond eine Wendung hin zum eher seichten Easy Listening, blieb aber nach wie vor beliebt bei seinen -in der Popszene einzigartig- loyalen Fans.

Immer wieder Thema: Spielfilme
Ein Ausflug ins Filmgeschäft („The Jazz Singer“, 1980) geriet zum cineastischen Flop, während der gleichnamige Soundtrack nichtsdestotrotz die Charts stürmte. Das Remake des weltweit ersten Tonfilms von 1927 zeigt Diamond als Sohn eines jüdischen Kantors, dessen Leidenschaft für weltliche Popmusik (die ihn in die Arme seiner nichtjüdischen Managerin drängt) fast die Liebe seines traditionell gesinnten Vaters kostet. Während Diamond-Fans Parallelen zum Leben ihres Idols suchten und fanden, schmähten Kritiker die allzu „verquaste Story“ (Filmlexikon).

Allerdings brachte der Film auch eines der erfolgreichsten Lieder aller Zeiten hervor: das US-patriotische „America“, das nicht nur #1 der Charts erreichte, sondern auch heute noch eine der obligatorischen 4.-Juli-Melodien ist.
Die 2000er Schmonzette „Saving Silverman“ allerdings (zu deutsch „Zickenterror“getauft) zeigte Neil in einer eher selbstironisch angehauchten Rolle als „himself“, in der er dem Sänger einer jugendlichen Tributband zum Liebesglück verhilft. Der Abspann-Song „Mission of Love“ wurde Teil seines Albums „Three Chord Opera“ (s.u.); mehr können selbst hartgesottene Fans nicht aus dem Film herausholen, den Diamond wohl eher „aus Spass an der Freud“ gedreht hat.

(Immerhin ein Grammy-Erfolg war einige Dekaden zuvor der Soundtrack zur ansonsten eher langatmigen Verfilmung von Jonathan Livingston Seagull (1973). Diamonds gefällige Kompositionen wurden durch Arrangeur Lee Holdridge zur präsentablen Form gebracht und sind mit üppiger Streicher-Garnitur zeitlos gefällig. )

Live-Legende
Seinen heutigen legendären Ruf erwarb sich Diamond ohnehin durch seine rekordbrechenden Livealben und -konzerte. Angefangen mit dem zeitlosen Meisterwerk „Hot August Night“ (1972) vor großorchestralem Hintergrund über „Love At The Greek“ (1976) und „Hot August Night 2“ (1986) bis zu „Live in America“ Anfang der 90er Jahre. Empfehlenswerter als das nicht durch stimmliche Meisterleistung geprägte letztgenannte Werk sind für Einsteiger und Fans gleichermaßen die Zusammenstellungen „Stages: Performances 1970-2002“ und „Live in Concert (Reader’s Digest Music)“.

Seine charismatischen Bühnenauftritte trösteten die Fans über eher uninspirierte Alben („Headed for the Future“, 1986) und immer wieder veröffentlichte Best-of-Compilations hinweg. Das Ende der 90er Jahre zeigte dann einen musikalisch dynamischeren Diamond. Mit dem Country Album „Tennessee Moon“ (1996) eroberte er aufs neue die Herzen seiner Hörer und nebenbei auch die Charts, während ein CoverAlbum mit Filmmusik („The Movie Album“ 1998) lediglich Sehnsucht nach echten Diamond-Songs aufkommen ließ.

2001 erschien schließlich „Three Chord Opera“, angepriesen als das erste Album seit 20 Jahren, dessen Songs von Neil Diamond ohne Co-Autor geschrieben wurden. Tatsächlich schimmert unter der glattpolierten Oberfläche von Songs wie „You Are the Best Part Of Me“ wieder der ersehnte ‚Diamondismus‘ der 70er durch, insbesondere die bittersüssen „I Haven’t Played this Song In Years“ und „Midnight Dream“ überzeugten.

Später Karrierekick durch Rick Rubin
Zu „Altersmeisterwerken“ par excellence gerieten die Alben „12 Songs“ (2005) und „Home Before Dark“ (2008), die in Zusammenarbeit mit Rick Rubin in der Tradition von Johnny Cashs „American Recordings“ entstanden.

Bar allen überflüssigen Arrangements und fast schmerzhaft intensiv vorgetragen, wurde „Home Before Dark“ zum größten Charterfolg Diamonds (#1 Album in den USA). Insbesondere  „Hell Yeah“ ist ein würdiger Kontrapunkt zu NDs „I am … I said“ der frühen 70er. Vermutlich hätte bereits „12 Songs“ den Chart-Olymp bis zur Spitze erklommen, hätte nicht Sony das Album (bzw. die Erstpressung) wegen versteckt enthaltener Schadsoftware (Rootkit-Skandal…)  zurückziehen müssen.  Sabotage, aus Sicht der Fans.
Seither muss sich Diamond an der Qualität der Rubin-Produktionen messen lassen. Ein weiteres, recht solide abgeliefertes Cover-Album („Dreams“, 2011) und ein eher mediokres Werk mit Eigenkompositionen („Melody Road“, 2015) halten Fans weiter in Wartestellung. Das dritte Weihnachtsalbum seiner Karriere, „Acoustic Christmas“ (2016), überraschte mit hinreißend dezenten Interpretationen, auf die man Anfang der 90er sehnsüchtig gewartet hatte. (Christmas Album Vol. I & II gerieten damals grell und überproduziert, waren aber überraschend kommerziell erfolgreich).

Zu Unrecht unterschätzt
Neil Diamond ist meiner Meinung nach einer der meist unterschätzten Künstler der letzten 50 Jahre. Zu leicht schiebt man ihn in die „Schnulzensänger“-Schublade, was vielleicht keiner weniger ist als Diamond, dessen größte Hits unglücklicherweise die leichten Popstückchen waren, während die wahren „Edelsteine“ auf B-Seiten und Konzeptalben nur Kennern und Genießern vorenthalten blieben.  Den ‚wahren‘ Neil Diamond findet man z.B. auf  „Serenade“ (1973) oder „Beautiful Noise“ (1976), auf seinen einzigartigen Live-Alben (s.o.) und letztendlich auf „12 Songs“/“Home Before Dark“. Selbige seien jeder Plattensammlung wärmstens empfohlen.

Die gelegentlichen musikalischen Ausrutscher verzeiht man diesem Mann gerne: Diamond’s are forever!